«Chinesische Chronik» – Rita BALDEGGER

Beijing, den 28. September 2001

Die kapitalistische Revolution des Jiang Zemin
Der KP-Generalsekretär Jiang Zemin hat die Türen der Kommunistischen Partei Chinas für die Privatunternehmer geöffnet.

« Das Plenum pries die Rede, die Genosse Jiang Zemin zum 80. Jubiläum der Gründung der Kommunistischen Partei am 1. Juli gehalten hatte. » Dieser Satz stand an erster Stelle des Kommuniqués zur jährlichen Tagung des Zentralkomitees der KP Chinas, welche diese Woche stattgefunden hatte.

Der an sich harmlose Kommuniqué-Auftakt bedeutet für Jiang Zemin einen ideologischen Sieg. In jener Rede nämlich öffnete der KP-Generalsekretär überraschend die Türen der Partei für die Privatunternehmer, kurz: für die Kapitalisten, den Erzfeinden des Kommunismus.

Diese Ankündigung stiess manchen der rund 65 Millionen Parteimitglieder sauer auf. Vor allem jene fühlten sich betrogen, die an die Schaffung eines Arbeiter- und Bauernparadieses geglaubt hatten und für die Gründung der Volksrepublik China mit Waffen und Worten gekämpft hatten.

Gegner platzierten nach der Ankündigung einen anonymen Artikel auf dem Internet, der im Stil an Deng Liqun erinnerte. Der 86-jährige, von 1982 bis 1985 Leiter der Propagandaabteilung, ist ein Sprecher der extremen Linken der Partei.

Die « Petition der 10’000 Wörter » beschuldigte Jiang Zemin, die Arbeiter und Bauern zu verraten und sich auf die Seite der Privatunternehmer zu schlagen, die nur 0,3 Prozent der Bevölkerung ausmachen würden. Er habe sich nicht angemessen mit der Partei beraten und fördere zudem einen Kult um seine Person, wie es ihn seit Maos Zeiten nicht mehr gegeben habe.

Jiang blies in den staatlichen Medien zum Gegenangriff. Berichte und Sendungen erklärten, dass die Rede in Einklang mit Theorie und Praxis von Marxismus, Leninismus und Maoismus stehe. Zur Sicherheit schloss die Regierung auch noch das Magazin « Wahrheitssuche », eine wichtige Meinungsplattform der extremen Linken. Das Magazin hatte Jiangs Einladung an die Privatunternehmer als « schlechte Tendenz » gegeisselt, die eine « neue Bourgeoisie » schaffen würde – eine vernichtende Kritik in marxistischen Kreisen.

Jiangs Anstrengungen waren, wie der Ausgang des Plenums zeigte, von Erfolg gekrönt. Das Kommuniqué enthielt eine nur leicht verhüllte Kritik an die Adresse der konservativen Kräfte innerhalb der Partei. Die Kader sollten « ihren Geist von alten Ideen, Praktiken und Systemen und von einer falschen und dogmatischen Auffassung des Marxismus befreien ».

In den nächsten Monaten könnten bis zu 200’000 Privatunternehmer der Partei beitreten und damit aus der « Vorhut der Arbeiterschaft » eine Partei für alle machen. Tatsächlich sind die Arbeiter und Bauern in der Partei untervertreten. Ein Grossteil der Mitglieder sind Militärangehörige, Beamte, Intellektuelle und Funktionäre in staatlichen Organisationen und Unternehmen.

Trotz erheblicher Einschränkungen hat der Privatsektor die Entwicklung Chinas massgeblich vorangetrieben und trägt heute einen Grossteil zum Bruttoinlandprodukt bei. Die Anbindung der Privatunternehmer an die Partei ist ein geschickter Schachzug Jiangs: Er erlaubt dieser wirtschaftlich starken Gruppe, sich innerhalb der Partei Gehör zu verschaffen und verhindert, dass sie eigene Organisationen zum Schutz ihrer Interessen gründen.

Die Aufnahme der Privatunternehmer in die Partei hat Jiang mit seiner Theorie der « Drei Vertretungen » vorbereitet, die er vor eineinhalb Jahren postulierte. Diese besagt, dass die Partei die fortschrittlichsten Produktivkräfte (zu denen die Privatunternehmer eindeutig gehören), die fortschrittliche Kultur und die Interessen der Mehrheit des chinesischen Volkes vertreten soll. Jiang Zemin lancierte eine Kampagne, und Volk und Funktionäre hatten die These ihres Staats- und Parteioberhauptes zu studieren. Was als reiner Persönlichkeitskult abgetan wurde, bildete in Wahrheit die Grundlage für seinen Coup vom 1. Juli. Jiang möchte seine Theorie am nächsten Parteikongress im Jahr 2002 in der Parteiverfassung verankern. Dies würde ihn in der Hierarchie der Parteigeschichte auf eine Stufe mit seinen Vorgängern Mao Zedong und Deng Xiaoping erheben. Jiangs Willkommensgruss an die Kapitalisten ist schon jetzt revolutionär genug.

Kein Buddha

In Shaoshan, der Heimatstadt Mao Zedongs in der Provinz Hunan, wollen die Behörden dem Mao-Kult ein Ende setzen. Sie schlossen mehrere Tempel mit Bildern und Statuen von Mao. In Geschäften und Souvenirläden wurden Tausende von Gegenständen konfisziert, die Mao als buddhistischen Heiligen oder chinesischen Gott des Wohlstandes darstellten. Die Verehrer – Einwohner und Wallfahrer – dürfen auch keine Räucherstäbchen oder Papiergeld vor Mao-Bildern verbrennen. Die Massnahmen erfolgen kurz vor einem erwarteten Touristenansturm anlässlich der einwöchigen Ferien zum Nationalfeiertag am 1. Oktober.

In den letzten Jahren ist Mao für viele zu einer gottähnlichen Figur geworden. In Peking zum Beispiel beschützt er auf einem Amulett, das am Rückspiegel hängt, die Taxifahrer. Mao hatte versucht, die Religion in China auszumerzen, den Kult um seine Person aber gefördert.

In den achtziger Jahren lebten die Volksreligionen wieder auf. Sie füllten die Lücke, welche die Abkehr vom orthodoxen Marxismus hinterlassen hatte. Mao, der Revolutionär, schaffte es in den Pantheon der Küchengötter und Schutzgeister. Die lokalen Behörden begründeten ihr Vorgehen damit, dass Mao schliesslich ein kommunistischer Führer und kein Buddha gewesen sei.

 

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